Die Macht des kleinen Schwarzen
Alles begann im heutigen Äthiopien des 9. Jahrhunderts mit ein paar Ziegen, die rote Beeren von einem Strauch fraßen und abends dann – nicht tot zu kriegen – ihre Hirten nervten. Diese spuckten nach einem Selbstversuch die rohen Bohnen angewidert ins Feuer. Kurz darauf verbreitete sich der betörende Duft gerösteten Kaffees, der die Welt für immer verändern sollte. Ohne Kaffee hätte Goethe nur die Hälfte seiner Gedichte geschrieben, wäre der Kommunismus Philosophie geblieben und keiner von uns wüsste heute, was ein iPhone ist.
Mag sein, dass nach den darauf folgenden zwei Weltkriegen die Menschen einfach genug hatten von Hetzreden und Indoktrination und froh waren, im Kreise Ihrer Lieben das (Über)Leben zu genießen. Tatsächlich aber war es die Entdeckung des Fernsehens in den 50ern und die damit veränderten Freizeitgewohnheiten, die dann europaweit das Kaffeehaussterben einläutete.
1990 definierte der Stadtsoziologe Ray Oldenburg in seinem Buch „the great good places“ die Bedeutung nicht nur von Cafés, sondern auch von Buchläden, Barbierläden, Postämtern und anderer Hangout-Areas, die mit „Treffpunkt“ nur unzureichend übersetzt sind. Oldenburg unterstrich, wie wichtig neben 1st Place (Wohnung) und 2nd Place (Arbeit) diese 3rd Places sind. Denn sie sind “the heart of a community’s social vitality and the foundation of a functioning democracy”.
Kaffee ist Genussmittel und Droge, erhöht Konzentration und Denkzeit. Wikipedia sagt: „Coffein ist weltweit die am häufigsten konsumierte pharmakologisch aktive Substanz”. Mönche nutzten es, um länger diskutieren und beten zu können, Schach, Backgammon und Opposition wurden beim Mocca bis spät in die Nacht gespielt. Das lief super – bis im 16. Jahrhundert im Osmanischen Reiche Kaffeetrinker verfolgt und Kaffeehäuser niedergebrannt wurden, so sehr fürchtete man den Einfluss des Kaffees auf die Aufrührer.
Dennoch (oder gerade deswegen?) schossen von Wien aus in allen Metropolen der Welt Kaffeehäuser aus dem Boden und verhalfen Europa zu seiner geistigen Vormachtstellung in der Moderne. Wohlgemerkt – nicht das Getränk, sondern die Verbindung von Kaffee und Café – Droge und Ort des Konsums gemeinsam sind das Erfolgsrezept.
„Täglich saßen wir stundenlang, und nichts entging uns. Denn wir verfolgten dank der Kollektivität unserer Interessen die Geschehnisse nicht mit zwei, sondern mit zwanzig und vierzig Augen“
Was mit philosophischer Feinsinnigkeit und Kaffeehausliteratur begann, wurde aufgrund der sich ändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zur politischen Radikalität. Lenin redete sich gern nach einer Partie Schach und mehreren Tassen Kaffee in Rage und ließ gemeinsam mit anderen Demagogen seiner Zeit die ganze Welt in Flammen aufgehen.
„80% Innovation entstehen durch Informelle Kommunikation.“
Ein einzelner Nerd, der sich hinter seinem Schreibtisch versteckt, ist genauso explosiv wie ein einzelner Brennstab – nämlich gar nicht.
Wie aber verdichtet man Wissensarbeiter, Spitzendenker, Superkreative über die kritische Masse hinaus? Wie bringt man die Fähigen mit wachen Hirnzellen und etwas verkümmerten Kommunikationsfähigkeiten zusammen, um real zu reden, statt nur virtuell Mails auszutauschen? Und vor allem, wie bringt man sie dazu, vom Campus direkt in die Wirtschaft zu wechseln? Man gebe ihnen genug Kaffee und stecke sie in eines!
Und so erschuf die Softwareindustrie neue 3rd Places: Mittelzone, Café, Sitzsackecke, Schaukeln, Innengärten, Kaffeeküchen in Form von U-Bahn Stationen, ja sogar Rutschen statt Treppen. Nebenbei verbraucht die Branche mittlerweile den meisten Kaffee pro Kopf pro Jahr.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass wir Kaffeesachsen hier in Leipzig mit dem Lokal „Zum Arabischen Coffe Baum“ seit 1694 eines der ältesten, kontinuierlich betriebenen Café-Restaurants Europas haben. Also im Grund kein Wunder, dass wir Berlin, Hamburg und München gerade den Rang ablaufen, dass es hier boomt, dass wir unkontrollierten Zuwachs an Kreativen haben und die Menschen hier laut einer Umfrage des Focus glücklicher sind als irgendwo sonst in Deutschland!
Liegt eben alles nur am Schälchen Heeßn.
Quellen
* Apropos Kaffeesachsen:
Mit diesem verächtlichen Begriff soll Friedrich der Große sächsische Soldaten beleidigt haben, als diese während des Siebenjährigen Krieges nicht ins Feld ziehen wollten. Ihre Begründung: „Ohne Gaffee gönn mer nich gämpfn.“